Historie der Stadt Wangen im Allgäu
Von Dr. Rainer Jensch, Stadtarchiv
Die Geschichte Wangens „beginnt” im frühen Mittelalter. In einer Urkunde des Klosters St. Gallen wird der Ort erstmals im Jahr 815 als „Wangun” erwähnt. Die ursprünglich alemannische Ansiedlung gehörte damals zu den ältesten und bedeutendsten Stiftungsgütern, welche dieses fränkische Reichskloster in Oberschwaben besaß.
Vom Marktort zur Stadt
Das klösterliche Verwaltungszentrum Wangen gewann als Marktort im 12. Jahrhundert eine immer größere Bedeutung. Die weltliche Schutzvogtei über den Klosterort lag im Hochmittelalter bei den Hohenstaufern. Aus einer Urkunde Kaiser Friedrichs II. von 1217, die noch heute im Stadtarchiv aufbewahrt wird, geht hervor, dass Wangen zu dieser Zeit wohl schon eine Stadt gewesen sein muss. Es wurde bestimmt, dass die Schutzherrschaft von Wangen für immer in königlicher Hand bleiben sollte. Nach der Hinrichtung des letzten Hohenstaufen, in der sogenannten „kaiserlosen Zeit”, gelang es der Stadt, zum Nachteil der St. Gallener Klosterherrschaft ihre Unabhängigkeit zu behaupten und systematisch auszubauen. König Rudolf I. von Habsburg besiegelte schließlich den Status als „freie Reichsstadt” im Jahr 1286. Das Symbol des Adlers für das staufische Kaisertum und das Symbol der Lilie für das fränkische Kaisertum verdeutlichen im Wappen der Stadt auch heute noch diese ehemalige Reichszugehörigkeit.
Reichsstädtischer Glanz
Gewerbefleiß und Handel stärkten die Wirtschaftskraft der verkehrsgünstig gelegenen Stadt. Hier kreuzen sich seit jeher die Straßen von Ravensburg, Lindau, Leutkirch und Isny. Um 1400 war innerhalb der bestehenden Grenzen keine bauliche Entwicklung mehr möglich. Daher ummauerte man die zwischen Stadtmauer und Argen gelegene und als „Baind” bezeichnete landwirtschaftlich genutzte Sonderflur. Von daher rührt noch heute der Name „B(a)indstrasse”. Die Unterstadt war entstanden. Die Herstellung und der Export von Sensen und Leinwand sorgten für eine ansehnliche Außenhandelsbilanz. Die Stadt kaufte während ihrer Blütezeit ein beachtliches Landgebiet außerhalb der Stadtmauern zusammen. Dessen Erträge sorgten auch in Notzeiten für eine solide und sichere Existenzbasis.
Schlechte Zeiten
In Wangen brachen die als „Sterbensläufe” bezeichneten Zeiten immer wieder aus. Erinnert sei hierbei an die verschiedenen Pestwellen, die große Bevölkerungsteile über Nacht dahinrafften. Erwähnt seien aber auch die furchtbaren Stadtbrände. Im Jahr 1539 wurde durch die Hand eines Mordbrenners nahezu die ganze Oberstadt eingeäschert. 1793 und 1858 brannten ganze Straßenzüge der Unterstadt ab. Friedenszeiten wurden häufig durch Kriegszeiten unterbrochen. Durch Truppeneinquartierungen, Kriegskontributionen und Plünderungen wurde die Stadt besonders hart gebeutelt. Mindestens ebenso schlimm wie der 30jährige Krieg waren die Folgen der Koalitionskriege unter Napoleon. Zwei Jahrzehnte lang hatte Wangen so ungeheure Kriegslasten zu tragen, dass es die Schuldenlast aus eigener Kraft nicht mehr bewältigen konnte. Auch mit umfangreichen Liegenschaftsverkäufen, wie etwa die der vielen städtischen Weiher, konnten die Schulden nicht getilgt werden.
Das Ende der Reichsstadt
In Folge der napoleonischen Umwälzungen verlor Wangen schließlich im Jahr 1802 seine Unabhängigkeit. Aus der freien Reichsstadt war jetzt eine bayerische Amtsstadt geworden, die 1810 schließlich völlig überschuldet unter die Oberhoheit des Königreiches Württemberg gelangte. Damals musste Wangen sein stadteigenes Landgebiet abtreten. Dieses bestand im wesentlichen aus den Gerichtsbezirken Wangen und Deuchelried sowie den Hauptmannschaften Niederwangen, Maria-Thann und Wohmbrechts. Die einstigen Hauptmannschaften Maria-Thann und Wohmbrechts verblieben bei Bayern. Noch heute zerschneidet diese künstlich gebildete Landesgrenze dicht hinter der Stadt einen über Jahrhunderte historisch zusammengewachsenen Kulturraum.
Oberamtsstadt
Als Verwaltungsmittelpunkt des Oberamtes Wangen blieb die Stadt im 19. Jahrhundert weiterhin der Haupt- und Marktort einer Landregion. Handwerk und Ackerbau waren die hauptsächlichen Existenzgrundlagen. Die städtebaulichen Veränderungen in dieser Zeit waren nur gering und haben kaum in das mittelalterliche Stadtbild eingegriffen. Während sich im 16.Jahrhundert nahezu alle Reichsstädte zur Reformation bekannten,war Wangen immer beim alten Glauben geblieben und bildet damit eine seltene Ausnahme. Erst in der württembergischen Ära des 19. Jahrhunderts ließen sich auch Evangelische hier nieder. Der erste evangelische Kirchenbau wurde 1893 eingeweiht und zeugt von der inzwischen stattlich angewachsenen Gemeinde.
Späte Industrialisierung
Sehr spät hielt mit der Errichtung einer Baumwollspinnerei 1860 (seit 1913: ERBA) die Industrialisierung in Wangen Einzug. Der Eisenbahnanschluss im Jahr 1880 stärkte die weitere wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und war die Voraussetzung für die Gründung von 3 Großkäsereien. Die Bevölkerung wuchs innerhalb von 100 Jahren von 1.769 Personen im Jahr 1840 auf 8.034 Personen im Jahr 1940 an.
Weltkriege
Der erste Weltkrieg brachte mit seinen zahlreichen Opfern unvorstellbares Leid in alle Familien. Die Wirtschaftskrise der 20er und frühen 30er Jahre war schließlich der Nährboden für Extremparteien. Nach dem politischen Umsturz 1933 wurde das öffentliche Leben in der bis dahin katholischen Zentrumshochburg für 12 Jahre von der NSDAP beherrscht. Die Ära unterm Hakenkreuz ist in dem 1999 erschienenen Buch „Verdrängte Jahre? Wangen im Allgäu 1933-1945“ gründlich aufgearbeitet worden.
Nachkriegszeit
Glücklicherweise blieb die Stadt von den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges völlig verschont. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges zeitigten dennoch Umwälzungen, die in der Geschichte Wangens ohne Beispiel bleiben. 2.500 Evakuierte, Flüchtlinge und Heimatvertriebene mussten in einer entbehrungsreichen Zeit in der Stadt aufgenommen werden. Erst durch den Ausbau der Randsiedlungsgebiete der Stadt zu eigenen „Stadtteilen” konnte die Wohnungsnot allmählich beseitigt werden. In den vielen nach dem Krieg neu gegründeten Betrieben fand die gewachsene Bevölkerung Arbeit.
Gemeindereform
Die jüngsten grundlegenden Veränderungen brachten die Verwaltungsreformen der Jahre 1972/73 mit sich. Zum einen wurde der Landkreis Wangen aufgelöst und zum Landkreis Ravensburg geschlagen. Zum anderen wurden die sechs Gemeinden Deuchelried, Karsee, Leupolz, Neuravensburg, Niederwangen und Schomburg in die jetzt „Große Kreisstadt Wangen” eingemeindet. Die Einwohnerzahl stieg von 14.400 auf 22.066. Diese explosionsartige Verzehnfachung der Markungsfläche und der Bevölkerungszuwachs um über ein Drittel brachte die Stadt in jedem Bereich bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Der Bau einer zentralen Abwasser-Kläranlage, die Neuregelung des Fernstraßen-Durchgangsverkehrs, die überörtlichen Autobahn-Planungen, die großzügige Erschließung von Wohnbau und Gewerbegebieten, der Ausbau des Schul- und Kulturwesens usw., all das waren die Aufgaben, die nun in Angriff genommen werden mussten.
Folgen des Strukturwandels
Mit der Konsolidierungsphase der 1980er Jahre setzte sich der globale Strukturwandel fort und wirkt unaufhaltsam auch in unsere Region hinein. Das in den 60er Jahren einsetzende Höfesterben im Wangener Umland hat heute einen bedauerlichen Negativrekord erreicht und zeitigt als Folge eine schleichende Veränderung unserer jahrhundertealten Kulturlandschaft. Die Schließung von Produktionsbetrieben in der textil-, metall- und lebensmittelverarbeitenden Industrie aufgrund der globalen wirtschaftlichen Strukturveränderungen hat zur heutigen Dominanz der Dienstleistungen geführt. Andere Unternehmen haben sich mit ihren Produkten wie Programmschaltungen, Steuerungen, Labormöbeln oder Modellbau auf dem internationalen Markt behauptet. Gleichzeitig haben sich neue Unternehmen etabliert, die zukunftsweisende Techniken herstellen (Steuerungs- und Regeltechnik, Geothermie). Durch die gute Verkehrsanbindung (A 96) bleibt Wangen auch weiterhin ein attraktiver Gewerbestandort. Unter anderem mit dem Baugebiet „Haid“ und dem „Interkommunalen Gewerbegebiet Geiselharz-Schauwies” stehen attraktive Wohn- und Gewerbeflächen für Neubauten zur Verfügung.
Denkmalgeschütztes Kleinod
Das Erkennen des hohen Wertes der alten Stadtanlage und die Zielsetzung, deren Erscheinungsbild zu bewahren, hat seit Beginn der 1970er Jahre und damit gerade noch rechtzeitig die Bausünden einer nivellierenden Einheitsarchitektur in der Kernstadt verhindert. Seit Mitte der 1970er Jahre laufen die Bemühungen für den Erhalt der denkmalgeschützten Altstadt. Als eine der schönsten unter den süddeutschen Altstädten ist Wangen aufgrund seines geschlossenen Gesamtcharakters, aber auch durch die zahllosen authentischen und sachverständig gepflegten Details zu einem liebenswerten Kleinod mit touristischer Anziehungskraft geworden.