Was uns die Sterbe- und Taufverzeichnisse (ab 1591) verraten…
Stephan Wiltsche, Dieter Knaak, Josef Mast und Edgar Mink von der Archivgruppe des Pfarrarchivs St. Martin zogen am 01.10.2019 die Besucher des dritten Vortrags über die Archivschätze von St. Martin erneut in ihren Bann.
Kirchenbücher sind gleichzeitig Populationsbücher und geben uns kleine Blicklöcher in das Leben längst vergangener Zeiten.
Wie hart und entbehrungsvoll das Leben der Wangener war kann man in den Kirchenbüchern anhand der Sterbe- und Taufverzeichnissen ablesen.
Stephan Wiltsche´s Fazit nach einer kurzen Einführung in der Begrüßung: „Unvorstellbar, wie gut es uns heute geht!“
Edgar Mink erklärt die Arbeit der Archivgruppe, die seit zwei Jahren die alten Kirchenbücher erforschen und akribisch archivieren. Dass die Gruppe hier noch die nächsten zwei bis zwanzig Jahre zu tun hätte sorgte bei den Zuhörern für Heiterkeit.
Was sind Kirchenbücher? Es gibt sie heute noch.
Vermeldungen, Taufbuch, Sterbebuch und Familienregister werden heute noch geführt. Entgegen früher, wo Taufbücher auch gleichzeitig Geburtsbücher waren, sind aufgrund des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr die Geborenen festgehalten, sondern nur noch die Getauften.
Das älteste, überhaupt erhaltene Taufbuch ist von 1490 und liegt in Basel.
Ab 1563 war per Dekret im Konzil von Triest das Führen von Eheregistern und Taufbüchern angeordnet worden. Ab 1614 wurden auch Sterberegistern geführt und bis 1876 gab es nur kirchliche Bücher, die gleichzeitig amtliche, staatliche Dokumente waren. Ab 1876 wurden staatliche Standesämter eingeführt, die ab diesem Zeitpunkt die Beurkundung der Geburten, Heiraten und Sterbefälle vornahmen.
Im Tauf- und Sterberegister sind seit 1591 alle katholisch Getauften und Verstorbenen in Wangen verzeichnet.
Dass man in Wangen bereits so früh Kirchenbücher eingeführt hat hängt mit Christopherus Geyer zusammen, der von 1586 – 1591 Pfarrer in Wangen war. Er war sehr gebildet und engagiert, solche Verzeichnisse zu führen.
Wangen hatte turbulente Zeiten zu überstehen. Seit dem Pestjahr 1591 wurden die Tauf- und Sterberegister lückenlos geführt. Es liegt ein großer Quellenwert in den Archivalien. Die Lebenswelten der Wangener sind gut ablesbar und mit der Stadtchronik zusammen betrachtet geben sie großen Aufschluss über die damalige Zeit.
Die Archivalien sind ein zentraler Schatz eines jeden Kirchenarchivs und werden vor Feuer und Überschwemmung geschützt aufbewahrt.
Josef Mast verdeutlicht anhand von Statistiken, wie geschichtliche Ereignisse, wie z. B. die Neapoleonischen Feldzüge von 1803 – 1815, deutliche Spuren hinterlassen, was sich in der Sterblichkeitszahlen ablesen lässt.
1803 – 1815 ist eine hohe Säuglingssterblichkeit zu verzeichnen. Auszehrung und Geburtsschwäche sind Ursache. Viele „Gichter“ sind vermeldet, die an Krämpfen, hohem Fieber, Darmerkrankungen, Austrocknung, Mineralienmangel und Entkräftung leiden und sterben.
1809 werden 110 Tote verzeichnet. Davon sind 42 Kinder.
1810 erreichen Masern, die Rote Ruhr, Keuchhusten und Rachitis Wangen und sind verantwortlich für die Hälfte aller Sterbefälle in Wangen.
(60 % aller Säuglinge sterben im ersten halben Jahr ihres Lebens.)
Man fragte sich zwangsläufig, warum es so viele Gichter und Kindertodesfälle gab?
Stephan Wiltsche liefert die Erklärung dafür: In dieser Zeit hält die französische Kultur Einzug in Wangen. Es gab insgesamt weniger Kinder (Kinder waren „out“, man hatte nur noch 3 – 4 statt 12), Stillen war „out“, die Kinder wurden falsch ernährt. Bereits Kleinkinder wurden mit Brei ernährt, was zu den oben genannten Symptomen führte und für Krampfanfälle sorgte.
Josef Mast stellt eine Persönlichkeit, die in den Sterbebüchern erscheint, vor: Paulus Alt.
Am 15.03.1760 in Wangen geboren, später 5 Jahre lang Abt/Reichsprälat in Ottobeuren findet er am 02.10.1807 bei einem Besuch bei seinem Bruder in Maria Thann einen überraschenden, schnellen Tod am „Schleimschlag“. Der damalige Pfarrer Weiß trug in das Sterbebuch ein: „Vom Tode überrascht starb der Abt ohne Sakramente in den Armen seines Bruders.“
Stephan Wiltsche erläutert hierzu, dass in den früheren Zeiten gebetet wurde, langsam sterben zu dürfen, um die Sterbesakramente noch erhalten zu können, was den Gläubigen zur extrem wichtig war.
Im Sterbebuch wird genau beschrieben, wie Paulus Alt mit einem Trauerwagen, von 4 Stadtpferden gezogen, abgeholt wurde, am väterlichen Haus Nr. 172 vorbei zum Alten Gottesacker, wo er die letzte Ruhestätte fand. (1917 wurden die sterblichen Überreste von Paulus Alt exhumiert und in die Krypta von Ottobeuren überführt.)
Todesursachen wurden akribisch festgehalten. So auch die des Kindes Ernest Paulus Alt, Neffe des Abts. Ernest fiel mit 4 Jahren in die Lachengrube des Nachbarn und „ersaufte“ und konnte trotz aller angewandten Mittel nicht mehr gerettet werden.
Rainer Knaak zeigt auf, wie Pestzeiten und der 30jährige Krieg (1618 – 1648) in Wangen ihre Spuren hinterlassen haben.
Der alte Friedhof bei der Kirche reichte nicht mehr aus, um die vielen Toten in den Pestzeiten von 1517/19 zu beerdigen und man musste auf ein externes Gelände ausweichen, das sich auf dem Maierhof-Areal fand. Durch Hinweise auf den Gottesacker mit Pestbühl (=Pesthügel) wird vermutet, dass sich hier ein Massengrab befand. Diese These veranschaulicht auch das Gemälde von Johann Andreas Rauch von 1611, das auf die Pest von 1521 schließen lässt.
Ein Rückblick auf die Pestzustände lässt erahnen, wie hoffnungslos die Plage den Bewohnern schien. Den eigentlichen Erreger der Krankheit kannte man damals nicht. Man vermutete, dass die Ausdünstungen der Leichen sie verursacht hatten. Ausschlag, abgefallene Körperteile – die Kranken waren sich selbst überlassen und sind elendig gestorben.
1622 war aufgrund des 30jährigen Krieges die erste Teuerungsrate feststellbar.
1625 durchzogen Truppen den Süden, 1627 sind erste Scharmützel in Niederwangen. Die Bücher verzeichnen ganz genau, wie brutal die Gefechte stattfanden und welche Verletzungen zum Tod führten.
Zu allem Überfluss rollte gleichzeitig eine weitere Pestwelle über Wangen. Der damalige Pfarrer Josef Stehle verzeichnete „…die leidige Pest fängt wieder an.“
Die Sterberate stieg 1629 sprunghaft auf 601 Tote an, was bei einer Einwohnerzahl von ca. 1500 verheerend war. 1628 kann man anhand der Sterbebücher die Not in der Form feststellen, dass Sterbefälle 3-spaltig eingetragen wurden, um die Masse und Geschwindigkeit der Sterbefälle festhalten zu können. Innerhalb von 3 Monaten sind hier 103 Tote überwiegend an der Pest verstorben.
1632 war der Süden den Schweden ausgesetzt, 1633 kam es beim Schwedischen Überfall auf Wangen zu Plünderungen und dem Drangsalieren der Bevölkerung.
Kaiserliche Einquartierungen vor den Toren Wangens forderten für 1000 Mann Verpflegung und brachte all die Plagen mit, derentwegen die verrohten Soldaten der damaligen Zeit so gefürchtet war. 1634 wurde die Kaiserliche Garnison von den Schweden überrumpelt. Letztlich wurde alles mitgenommen, was noch vorhanden war und stürzte Wangen in ein Elendsjahr.
Ein kurzer Exkurs zeigt, wieviel Aufwendungen damals erst zum Schutz vor Brandschatzerei und später zum Schutz für Truppen gegen die Schweden erbracht wurden. 1 Gulden entspricht einer heutigen Kaufkraft zwischen
30 – 60 Euro. Im Verhältnis musste damals ein Gegenwert von 14 Mio. Euro bereit gestellt werden.
1636 ist eine neuerlicher Anstieg der Todesfälle auf 489 zu verzeichnen, was für Wangen als Folge von Pest und Krieg das Aussterben mancher Familien bedeutete.
Auch der Spanische Erbfolgekrieg (1701 – 1714) bedeutete eine Katastrophe für Wangen und hinterließ im Sachsenwinter 1703/1704 Verwüstung, Hunger und Tod.
Edgar Mink berichtet anhand der Taufbücher von 1591 – 1800 über die Geburtenentwicklung in Wangen.
1604/1605 war die Zahl von 54 auf 102 gestiegen, von 1605 – 1627 war eine anhaltend hohe Zahl von Geburten zu verzeichen.
Es sind Zuzüge zu verzeichnen, da in der Umgegend Land erworben werden konnte.
Es war eine prospertierende Zeit für Wangen, die letzten Rechte wurden von St. Gallen gekauft, Neuravensburg zurückgegeben. Es gab 10 Jahre Steuerfreiheit, die vom Fürst in Wolfegg ausgerufen wurde, um Bevölkerung anzusiedeln.
Insgesamt ist zwischen 1591 – 1668 Kinderreichtum festzustellen, obwohl es auch 1-Kind-Familien gab. Frauen gebaren durchschnittlich alle eineinhalb – drei Jahre ein Kind. Am Beispiel Rauch können mit zwei Frauen 10 Kinder abgelesen werden, wobei in der Pestzeit hier auch ein Vermerk zu finden ist, „morgens stirbt ein Kind, mittags eines, abends seine Frau“.
Bartholome Mauch hat 19 Kinder mit 2 Frauen und wurde mit 40 noch einmal Vater.
Die Archivalien spiegeln die Lebenswelten, sind Quellen zur Familienforschung. Stephan Wiltsche zeigt hierzu ein Buch von Josef Reutemann, der in den 1960ern Kirchbücher ausgewertet hat und in einem Buch zusammengetragen hat.
In den Sterbebüchern sind mit Ehrfurcht Namen zu lesen, die lange Zeit nicht mehr bekannt waren. „Aber auch wenn sie nicht mehr bekannt sind, so sind diese Personen lebendig in dem Glauben, in dem sie gestorben sind. Der Name ist die wichtigste Identität eines Menschen.“
Lesen Sie hierzu auch den schönen Bericht von Vera Stiller in der Schwäbischen Zeitung vom 05.10.2019 (Wenn auch unbekannt, so doch nicht namenlos)
Herzlichen Dank dafür!
Ganz herzlichen Dank an die Archivgruppe von St. Martin, die uns dieses Jahr mit hervorragenden Beiträgen rund um das Denkmal der Kirche von St. Martin begleitet hat.
Die Vorträge sind Teil der Sammlungsaktion für die Sanierung unserer Martinskirche in Wangen. Bitte unterstützen Sie den Fördergemeinschaft von St. Martin!
Sie können spenden an den Altstadt- und Museumsverein Wangen, DE19 65050110 0000 225 555, Verwendungszweck „Spende Sanierung St. Martin“
oder direkt auf das Konto der Fördergemeinschaft Pfarrkirche St. Martin: DE44 65050110 0101 111 410.
Herzlichen Dank im voraus für Ihre Unterstützung!